Ausgabe 39: Frühjahr / Sommer 2019

„Wenn alle irgendwo blind hinlaufen, werden wir Unfälle weiter verstärken“

Autonomes Fahren setzt denkende Anwender voraus bzw. Fahrer, die das System verstehen. Aktuell sind wir noch meilenweit davon entfernt, meint Audio-Mobil-CEO Thomas Stottan im Gespräch mit VILLACH exclusiv.

Humanisierung der Technik muss das Ziel sein und nicht die Technisierung des Menschen, ist eine Ihrer dringlichsten Botschaften. Glauben Sie, dass die Entwicklungen und Bemühungen im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien, speziell auch auf dem Automobilsektor, derzeit in eine falsche Richtung laufen? Thomas Stottan: Es geht bedauerlicherweise schon lange in eine andere Richtung. Speziell in der Automobilbaubranche wird sehr viel auf den Markt gebracht, was vom Menschen nicht mehr beherrscht wird. Will heißen: das, was wir eigentlich durch Assistenzsysteme an Sicherheit gewinnen sollten, verlieren wir durch zusätzliche Ablenkung. Und damit ist der eigentliche Vorteil wieder ad absurdum geführt. Ablenkung ist eine der Hauptunfallursachen – noch weit vor überhöhter Geschwindigkeit. Wer bei Tempo 130 zwei Sekunden abgelenkt ist, legt fast 80 Meter im Blindflug zurück.

Wird das automatisierte Fahren ein Wunschtraum der Automobilbranche bleiben oder doch, wie vielfach propagiert, schon bald unsere Mobilität neu definieren?

Wenn wir es nicht schaffen, den Anwendern Vertrauen in die Technologie zu vermitteln, wird es vom Markt nur schwer akzeptiert werden. Es ist noch ein langwieriger Prozess, und in manchen Teilbereichen wird man mit Sicherheit irgendwann einmal autonom fahren können. Allerdings hängt das von zwei Komponenten ab: wir brauchen also einerseits die technische Infrastruktur – ohne flächendeckende 5G-Technologie wird es auch kein automatisiertes Fahren in der Fläche geben, da wir es als Redundanz brauchen, wenn die Sensoren ausfallen –, und zweitens braucht es, selbst in Teilbereichen, die uneingeschränkte Akzeptanz der Anwender.

Wie kann man Ihrer Meinung nach die Akzeptanz und das Vertrauen der Anwender hierfür gewinnen?

Indem man beispielsweise die bereits vorhandenen Sicherheitssysteme für den Anwender verständlich macht. Es versteht doch eigentlich kaum jemand, warum z. B. ein Abstandstempomat so reagiert, wie dieser reagiert. Man muss aber diese Systeme verstehen oder lesen lernen, sie überwachen und notfalls die Fähigkeit haben, einzugreifen.

Systeme wie etwa das Navi haben den Menschen über Jahre hinweg in eine andere Richtung konditioniert und ihm das eigenständige Denken abgenommen. Zukünftig soll der Fahrer sich wieder verstärkt in Systeme hineindenken … bekommt er das hin: vom quasi entmündigten zum mündigen Verkehrsteilnehmer?

Das ist genau der Punkt, worum es geht: es muss uns gelingen, diese Technologien soweit dem Menschen anzupassen, dass er Vertrauen hat in das, was ihm geliefert wird. Wir Techniker müssen uns dabei mehr an den Menschen orientieren. Das ist das, was ich mit Humanisieren der Technik meine. Dann bekommen wir ganz spannende Anforderungen, die vom Menschen clever genutzt werden können. Und man wird in Zukunft wahrscheinlich die ganze Führerscheinausbildung überdenken müssen. Mit dem autonomen Fahren muss die Ausbildung deutlich intensiver sein als es heute der Fall ist. Nur im Vergleich: in einem Flugzeug sind qualifizierte, ausgebildete Piloten am Steuer, die über Jahre hinweg trainiert und für alle Eventualitäten geschult sind. Und auch jeder künftige Autofahrer soll dieses ganze Drumherum so verstehen, dass er gegebenenfalls eingreifen kann. Es braucht noch Zeit, bis wir die notwendigen Rahmenbedingungen und die erforderliche Infrastruktur für autarke Fahrzeuge geschaffen haben. Wir gehen davon aus, dass es mindestens noch 25 bis 30 Jahre dauern wird, bis eine signifikante Marktdurchdringung da ist.

In der aktuellen Diskussion um die Zukunft autonomen Fahrens hat man oft den Eindruck, als wären es völlig unterschiedliche Welten, die hier aufeinandertreffen: und jede scheint zu dieser Thematik eine andere Vision und auch einen anderen Status quo zu haben.

Ich vergleiche es gerne mit der Eisenbahn. Im Bahnwesen haben sie eine Schiene, die zumindest einigermaßen genormt ist; dazu haben sie Züge mit Spurweiten, die ebenfalls genormt sind. Von diversen länderübergreifenden Problemen abgesehen. Aber letztendlich baut der Bahnbetreiber sein Gerät so, dass es auf den Schienen fährt. Das haben wir natürlich beim Auto und der Straße nicht. Wir haben hier einerseits den Straßenerhalter (meist die öffentliche Hand), jemanden, der die Autos baut, einen Dritten, der die Energie liefert und in Zukunft auch noch einen Vierten, der die Daten zur Verfügung stellt. Das bedeutet, wir haben vier Spieler, die miteinander koordiniert werden müssen. Und das macht die Sache zur echten Herausforderung und nicht unbedingt einfacher. Die Abstimmung untereinander ist sehr schwierig. Ein Beispiel dafür ist ja auch die aktuelle Diskussion um den Abbiegeassistenten: Entgegen der landläufigen Meinung, existiert in Japan genau aus der Forderung heraus, Kinder, Fußgänger und Radfahrer bei der gemischten Nutzung von Verkehrsflächen zu schützen, seit Jahrzehnten das Rundumsicht-Gesetz. Fahrzeuge, die länger als fünf Meter sind, müssen rundherum einsichtig sein. Hierfür gibt es auch kostengünstige Technologien zum Nachrüsten, die genau diese Anforderungen erfüllen. Leider hängt die Gesetzgebung der technologischen Entwicklung hinterher und macht es vor allem bei uns im europäischen Raum nicht unbedingt einfacher.

Eigentlich tragisch, dass die Politik hier nicht schneller in die Gänge kommt … immerhin geht es um Verkehrssicherheit und Menschenleben.

Ja, aber das ist vielleicht wieder das Problem, es den Menschen verständlich zu vermitteln. In diesem Fall die Menschen, die diese Entscheidungen fällen. Und es setzt natürlich auch Vertrauen in die Technik voraus. Es ist ein Prozess, und es geht nicht von heute auf morgen. Und so ist es auch beim automatisierten Fahren: jetzt gewöhnt man sich vielleicht erstmal an das automatische Parken, dann kommt in einem nächsten Schritt das autonome Fahren auf der Autobahn; was relativ einfach wäre, da es keinen Querund auch keinen Gegenverkehr gibt. Und so kann man sich hier langsam herantasten. Ich bin ein Verfechter von dem, dass man bei den Menschen den Lernprozess zulässt. Aber: alles was derzeit propagiert wird wie „morgen fahren wir autonom und damit haben wir keine Unfälle mehr“, ist aus meiner Sicht Nonsens. Es gibt keine Technologie, die so etwas wie Mischverkehr, Radfahrer, toter Winkel etc. zu tausend Prozent abfedern kann. Wir müssen es schaffen, eine neue Form des Dialogs unter den einzelnen Verkehrsteilnehmern zu schaffen – eine Möglichkeit ergäbe sich über „connectivity“: wenn Radfahrer beispielsweise eine entsprechende Vernetzbarkeit hätten, die dann mit dem Fahrzeug des Abbiegers kommunizieren würde, dann könnten beide um die Ecke schauen und frühzeitig die Gefahr erkennen. Kostenseitig imaginär. Handy hat fast jeder. Das Funknetz ist da; der Aufwand wäre eine App-Entwicklung. Aber auch hier wird es nur funktionieren, wenn man Vertrauen in diese App schaffen kann und die Schnittstelle zum Menschen für jeden verständlich aufgebaut wird.

Text: Gerlinde Tscheplak